„Griaß di Wahnsinn“ – eine Betrachtung über den Tiroler Tourismus
Dieser Bericht in der Süddeutschen Zeitung vom 7. August 2015, verfasst von Helmut Schödel ist bemerkenswert und stimmt nachdenklich. 35 000 Einwohner kümmern sich im Zillertal um zweieinhalb Millionen Übernachtungen von Touristen: Was wird aus einem Tal, wenn es nur noch um Gästezahlen geht?
Von Helmut Schödel
Von der Terrasse des Hotel Stock, eines noblen Spitzenklassehotels mit fünf Sternen am Ende des Tiroler Zillertals, oberhalb von Mayrhofen in Finkenberg auf 850 Metern gelegen, schaut man auf eine Bilderbuchlandschaft mit auf den Gipfeln schneebezuckerten Bergriesen, auf Nadelwälder und steil zu Schluchten hin abfallenden Wiesen.
Auch ein kahler Streifen, der an einer Stelle die Wälder trennt und aus der Ferne aussieht wie eine talwärts abstürzende Rinne, ist keine Skiabfahrt, sondern vermutlich das Bett eines ausgetrockneten Wildbaches. Ob über dieser Landschaft der Himmel blau ist, sich plötzlich Wolken wie Türme aufbauen oder sich dunkel ein Gewitter zusammenbraut – so eine Idylle kann nichts stören. Beim Blick von dieser Hotelterrasse scheint die Welt noch paradiesisch in Ordnung zu sein, das Zillertal ein Beispiel dafür, und auch das zahlreiche Hotelpersonal trägt freundlich zu dieser Vorstellung bei.
Am Anfang des Zillertals, wo es noch nicht so eng ist wie hinten in Mayrhofen, liegt der Ort Fügen, eigentlich ein kleines Örtchen, schließlich hat das gesamte Zillertal nur 35 000 Einwohner. Aber da kommen dann die Touristen dazu. Und der ganze Wahnsinn. Im Sommer 2013 hatte man 2 666 640 Übernachtungen.
Was macht so eine Zahl aus einem Tal?
Im Zentrum Fügens wuseln die Gäste herum, zwischen Gasthäusern, Eisdiele, Geschäften und Bankautomaten. Am Rand liegt ein Hotel neben dem anderen, dazu Pensionen und Ferienwohnungen. Das größte Hotel mit Haupt- und Nebenhaus ist der Kohlerhof.
An der Hotelfront werden ofenfrische Pizzen angepriesen und Nudelgerichte. Aus einem riesigen Plasmaschirm vor der Hauswand auf der Terrasse dröhnen Helene Fischers Gesänge, und die Gäste nehmen irgendetwas zu sich, in großen Portionen.
Das Hotel mit den grünen Balkons und der gelben Fassade und das Nebenhaus, bestückt mit Türmchen und Fahnen, sind sofort als reines Disneyland erkennbar, mit einem kleinen Schuss Ballermann, schließlich gibt es auf der Terrasse auch einen weiblichen DJ, der Gestalt nach eine leicht korpulente Hausfrau mit einer Vorliebe für CDs aus den 80er-Jahren. Nach 23 Uhr geht es dann in der hauseigenen Disco weiter.
Die Urlauber, deren Wahrnehmung offenbar schon so globalisiert ist, dass sie so eine Einzelheit wie das Zillertal nicht mehr wahrnehmen, wirken vergnügt. Das Ganze erinnert an diese Westerndörfer, in denen Büroangestellte Cowboys spielen. Hier spielt man Urlaub. Mal den Schweinehund baumeln lassen. „Schön habt ihr’s hier“, sagt eine dem Dialekt nach aus Ostdeutschland angereiste Touristin zu einem Kellner, und der Chef des Hauses sagt zu seinen Gästen: „Griaßt eich“.
Ein Kurzfilm, der zeigt: Ein Urlaub in Tirol beginnt und endet später in Abzocke und Suff
In einem 25-minütigen Kurzfilm mit dem Titel „Die Fremden kommen“, der 1976 im österreichischen Fernsehen gezeigt wurde, war der Einbruch der Touristen ins Zillertal schon damals Stoff für Satire. Zum Dorf im Film gehört eine Sirene, die aufheult, sobald sich, noch ganz in der Ferne, ein Touristenbus nähert. Dann beginnt ein eingespieltes Ritual.
Per Knopfdruck fährt man die Fernsehantennen ein, alte Holzschindeldächer legen sich automatisch über das Wellblech, man lässt die Autos verschwinden, schmeißt sich in Dirndln und Lederhosen, und ein Wildbach wird simuliert. Das Kommando heißt: „Bach bitte ab!“ Im Erfolgsfall heißt es dann: „Bach läuft.“
Wenn der Bus eintrifft, säen drei kräftige Tiroler nackt auf einem Feld. Schon bald hört man eine Ziehharmonika schnaufen und eine beinahe echte Bäuerin jodeln. Auch Kühe samt Glocken stehen bereit. Ein Urlaub in Tirol beginnt und endet später in Abzocke und Suff. Der Film führte damals im Tiroler Landtag zu heftigen Protesten.
Auch in Fügen bietet man den Gästen einen „Tiroler Abend“ an. Früher fand so etwas in einer Gastwirtschaft statt, heute in einer kalten Halle mit scheppernder Akustik. Wer rein will, muss 8 Euro zahlen. Der Bühnenprospekt zeigt ein Alpenglühen in einer dunklen sternklaren Nacht, also eine vollkommen verwirrte Natur.
Einer aus der Lederhosen-Combo spielt den Spaßmacher, und dann treten die Holzhackerbuam auf, während die Zuschauer im vollbesetzten Saal ihre Smartphones in die Höhe halten. Ein absurder Höhepunkt dieser Veranstaltung ist eine Harfenspielerin, die aus „Hoffmanns Erzählungen“ vorträgt: „Schöne Nacht, du Liebesnacht, oh stille mein Verlangen.“
Eigentlich müsste der Tourist nach draußen flüchten, um sich, nach den Vorgaben des Ortes, an einem riesigen Hightech-Telefonmast für Highspeed-Internet festzuhalten, der direkt neben dem Gebäude wie der ausrangierte Pfeiler einer Gondelbahn in den Nachthimmel ragt.
Die Mutter des Kohlerwirts, die nebenan eine Pension betreibt, eine freundliche Frau Mitte 70, hat mit ihrem zu früh verstorbenen Mann eine Landwirtschaft betrieben und neun Kinder großgezogen. Man sieht ihr das Thema des Lebens an: Arbeit.
Auch Finkenberg, wo das Hotel Stock liegt, war früher ein Bauerndorf. Der Chef des Hauses ist in einer kleinen Landwirtschaft aufgewachsen, zu der eine 40-Betten-Pension gehörte, für Sommerfrischler, die früher mehr als einen Monat lang blieben und nicht wie die heutigen Gäste eine Woche. Josef Stocks Frau zog nach der Scheidung von ihrem ersten Mann ihre drei Kinder allein groß, was damals noch viel schwieriger war als heute, und führte das kleine Schmuckgeschäft ihrer Großmutter in Mayrhofen weiter, unterzog sich einer Tourismusausbildung, stand in Rom und sonstwo an der Rezeption, um zu lernen.
Als sie mit dem heutigen „Stock“-Chef auf einem kleinen Grundstück seiner Familie in Finkenberg ein Restaurant führte, fragte sie eines Tages ihren Mann: „Josef, könnten wie nicht ein paar Übernachtungszimmer anbauen?“ Das war der Anfang des „Stock“. Damals war noch alles sehr überschaubar im Zillertal.
Erwähnt man Tirolern gegenüber das Zillertal, hört man meistens ein einziges Wort: Geld. Aber sollten die Zillertaler Brotsuppe essen, während in Kitzbühel und Ischgl die Post abgeht? In der industriellen Landwirtschaft sind die Nutztiere zur Ware geworden, und in der Tourismusindustrie verhält es sich mit den Fremden ähnlich.
Im Stall wird die Cash Cow gemolken und im Hotel der Tourist. Vor dem Kohlerhof stehen zwei Plastikkühe, als Fotomotiv.
Natürlich bildet sich, wenn auch noch schwach, eine Opposition zu diesem Ballermannwahnsinn heraus. Zu ihr gehört in Aschau, zwischen Kaltenbach und Zell am Ziller gelegen, die diplomierte Pastoralassistentin und Jugendseelsorgerin Doris Stadlmair. Eine wache Frau mittleren Alters, die nicht verbittert oder voller Klagen ist, sondern in Aufbruchstimmung, obwohl sie weiß, dass sie sich bei den bestimmenden Profiteuren keine Freunde macht.
Sie hat ihre junge Klientel aufgefordert, doch endlich zu hinterfragen, „wo und wie wir leben“. Ihre Aufgabenstellung lautet: „Überleg mal, was wären wir eigentlich ohne Tourismus?“ Natürlich ein armes Bauernvolk. Aber das ist nicht die Antwort, auf die es hier ankommt, sie will auf die Übertreibung aufmerksam machen, auf den Goldrausch.
Dass man in Tirol, dieser Übertreibung Bayerns, nicht vergisst, wem man die Chancen verdankt: der Natur, den Bergen, der Landschaft. Sie plant einen Themenweg durch das Tal, mit Bildern, Gedichten, Videoclips, um alle, die noch zu retten sind, aus der Banalität heutigen Urlaubens herauszuholen. Dabei wird sie auch von der Diözese Innsbruck unterstützt.
Denn wie würde, fände man aus dem Ausverkauf nicht raus, die Zukunft des Zillertals aussehen? Die Orte würden zu einer Großregion zusammenwachsen, immer mehr Abfahrten, immer mehr Seilbahnen, immer weiter steigende Grundstückspreise, je weniger Land übrig bleibt.
Eine frühe zündende Marketingidee, die Zillertalbahn, ein Schmalspurbähnchen, das einmal pro Tag auch mit einer Dampflok durch das Tal ruckelt, wäre durch eine U-Bahn zu ersetzen. Und überhaupt könnte man dann alles nach Disneyland-Manier anderswo aufbauen. Da braucht man keine echten Berge mehr wie den Penken und auch keine Zillertaler.
Erwin Zangerl, der Präsident der Tiroler Arbeiterkammer in Innsbruck, ist ständig mit einer weiteren Problematik der Tourismusindustrie konfrontiert, den Lehrlingen und Saisonarbeitern. Ihre Vorgänger in der einst bäuerlichen Welt waren die Knechte und Mägde, die nicht einmal heiraten durften. Zangerl sagt, in seinem Amt seien 150 Juristen beschäftigt, zum Lehrlingsthema gäbe es 60 000 erste Befragungen und Interventionen.
Eigentlich dürften Azubis keine Überstunden machen, was aber durch die Stoßzeiten der Saisonbetriebe reichlich illusorisch sei. Aber die Überstunden müssten wenigstens redlich bezahlt werden. Vor allem Ungarn arbeiten gerade als Arbeiter im Zillertal, die Deutschen werden weniger. Zwar gäbe es die krude Prügelausbildung, wie sie in Österreich noch lange stattfand, heute nicht mehr, aber Ausreißer könne man nicht ausschließen.
Teamlodge“ steht groß an einem Haus neben der Straße nach Finkenberg hinauf. Josef Stock hat es unterhalb des Hotels für seine Lehrlinge und Mitarbeiter gebaut. Mit Pool, Sauna und Fitnessstudio. Für die gute Laune des Personals.
Das normale Zimmer im Hotel Stock kostet 188 Euro pro Person inklusive Vollpension. Schaut man die Autos in der Tiefgarage an, sieht man, dass sich hier nicht nur Betuchte aufhalten oder Prominente wie Lothar Matthäus und Mario Götze.
Auch der eine oder andere Vorstandsvorsitzende fällt hier nicht auf. Das Ehepaar Stock betreut alle gleich familiär wie früher in einer Frühstückspension. Viele bleiben dann lieber etwas kürzer und haben es dafür gut.
Am Ende des Tales findet man also doch noch eine Antwort auf die Absurditäten der Tourismusindustrie. Sie heißt nicht Luxus, sondern Niveau, Haltung, Respekt.
Das ist der Kern des Stock. Respekt vor den Fremden, den Mitarbeitern und der Landschaft. Oder, passend zum katholischen Tirol: mit Respekt vor der Schöpfung.
Die sich in der Umtriebigkeit der Geschäftemacherei unbeobachtet fühlen, sollten bedenken: Die Berge haben die Ruhe von Zeugen.
Quelle: Süddeutsche Zeitung
Bleibt die Frage: “ Ist vielleicht etwas weniger doch mehr“ ?